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„Was hab ich für einen Dusel gehabt"

Anneliese Märtens ist in Rinkerode aufgewachsen und hat den Zweiten Weltkrieg dort erlebt

RINKERODE  Die Dichterin Anneliese Märtens erinnert sich noch ganz genau an das Kriegsende 1945. "Der Krieg war verloren - an allen Fronten. Die Amis marschierten in Deutschland ein und zogen auch durch unser Dorf", hat die Münsteranerin, die 1937 in Rinkerode geboren wurde und dort aufwuchs, schriftlich festgehalten. Not und Elend habe der Zweite Weltkrieg „in unser Land" gebracht.

Die Aufnahme zeigt Anneliese Märtens.
        Anneliese Märtens  wurde in
        Rinkerode geboren. Den Krieg hat sie
        in Rinkerode miterlebt.

Es war Ostern 1945: "Wir hatten früh genug die 'weiße Fahne' gesetzt, ein großes Bettlaken herausgehängt als Zeichen dafür, dass wir keinen Widerstand leisten und uns ergeben würden. Vater war mit einem Explosivgeschoss im Arm aus Russland wiedergekommen - wo viele aber an der Front ihr Leben lassen mussten", erzählt Märtens. Er habe ihr Ratschläge beim Bau eines Tarnungsbunkers gegeben, den die Rinkeroder Kinder selbst in den Wall eines Busches gebaut hatten. Schon bald habe man diesen nicht mehr sehen können. Die Decke war aus Baumstämmen, Zweigen, Erde und einer Menge Laub.

Zuerst sei es durch einen tiefen, einem Schützengraben ähnlichen Gang gegangen. Daran habe sich ein quadratischer Raum mit einer langen Bank an jeder Seite angeschlossen. Eine kleine Luke zu einem Notausgang war ebenfalls vorhanden. "Hier saßen wir nun und warteten auf die Dinge, die da kommen sollten. Die Panzer dröhnten, rasselten und stampften mächtig. Die alte Hammer Straße hatte eine Menge auszuhalten. Solche Fahrzeuge hatte sie in ihrem Leben noch nicht gesehen. So also sah er aus, der Feind: in Uniform und bis an die Zähne bewaffnet", beschreibt die frühere Rinkeroderin ihre Erinnerungen an die letzten Kriegsmonate 1945.

Wie häufig hätten sie bei Bombenalarm und Kanonendonner zwischen Kartoffeln und Eingemachtem gesessen und den Rosenkranz durch die Finger gleiten las-sen. "Münster brennt", habe es geheißen, wenn rote glühende Streifen und danach düstere Wolken am Horizont zu sehen waren. Manchmal sei der Himmel schwarz von Flugzeugen gewesen.

"Ich selbst bin dem Teufel im allerletzten Moment von der Schüppe gesprungen, wie man so sagt. Ich lag Anfang Oktober 1943 mit einer Mittelohr-Operation im Clemens-Hospital in Münster. Mutter machte sich Sorgen wegen der vielen Bomber über Münster und hat mich einfach nach Hause geholt, mit dem Fahrrad, und auf eigene Gefahr hat sie es riskiert", erzählt Märtens. Am 9. Oktober sei das gewesen. Einen einzigen Tag später habe das ganze Krankenhaus in Schutt und Asche gelegen. "Alle sind sie ums Leben gekommen - was hab ich doch für einen Dusel gehabt, das kann man nicht anders sagen."


Anneliese Märtens: "Ich selbst bin dem Teufel im allerletzten Moment von der Schüppe gesprungen."


Die Tiefflieger seien schrecklich gefährlich gewesen. "Sie haben doch tatsächlich friedliche Bauern auf dem Heuwender abgeschossen. Uns Schulkindern ging es nicht viel besser. Wenn's im Dorf Entwarnung gab, durften wir nach Hause gehen. Aber auf dem halben Weg von unserem fünf Kilometer langen Schulweg kamen die eisernen Vögel schon wieder und kreisten und heulten tief über uns. In unserer Not versteckten wir uns gebückt hinter Heuhaufen oder lagen im Graben. So manches Mal haben wir hinter einem Kreuz oder Mutter-Gottesbild abgewartet bis die Luft wieder rein war", schreibt die Dichterin, deren Spezialität das Pattdeutsche ist.

Die Aufnahme zeigt Anneliese Märtens auf einem Hochzeitsfoto einer Hochzeitsgesellschaft.
Anneliese Märtens  (vorne, 2. v. li.) nahm kurz vor
Kriegsende an einer Hochzeit teil.

Wenn das ständige und monotone Geräusch der fremden amerikanischen Fahrzeuge auch nicht habe aufhören wollen, so hätten Angst und Schrecken doch langsam nachgelassen. Irgendwann habe sie gemeinsam mit ihrer Familie wieder zurück in ihr Zuhause gekonnt. „Aber einen Abend später mussten wir wieder raus. Hohe Offiziere und Schwarze, die wir noch nie gesehen hatten, kamen auf unseren Hof und verlangten, dass wir diesen binnen einer Stunde geräumt haben mussten", erinnert sie sich. „Wir kamen bei den nächsten Bauern auf der Diele unter, dicht bei den Tieren im Stroh. Für uns Kinder war das sehr aufregend - davon hatten wir schon öfters geträumt, aber nicht unter solchen Bedingungen. Mutter tat mir schrecklich leid. Sie war hochschwanger. Wenn's auch gerade Ostern war, musste ich an Weihnachten denken und an den Stall in Bethlehem. Ich hoffte, dass es nicht hier passierte."

Gegen Ende des Krieges habe es vielerorts geheißen: "Die Flüchtlinge haben noch viel mehr mitgemacht. Die haben Haus und Hof verloren. Wir können sicher irgendwann wieder zurück, die aber nicht." Die, die das gesagt hätten, hätten ja recht gehabt, so Anneliese Märtens, die eine geborene Merten ist.

Genau erinnert sie sich an die Momente, als sie und ihre Familie gerannt seien, damit nicht die polnischen und russischen Gefangenen, die von den Alliierten befreit worden waren, "plündernd und randalierend vor uns in unserem Haus waren".










Quelle: Westfälische Nachrichten vom 16.07.2015